Louis de Bernières

Traum aus Stein und Federn


Aus dem Englischen von Manfred Allié
und Gabriele Kempf-Allié
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2005
669 Seiten, geb., E 20,50

 Eskibahce, ein Küstenstädtchen in der Nähe von Smyrna, dem heutigen Izmir. Griechen und Türken, Christen und Muslime leben neben- und miteinander in gegenseitiger Akzeptanz. Es ist kein Idyll, aber im Vergleich zu dem, was noch kommen soll, paradiesisch. So lange, bis die Weltgeschichte den vergessenen Flecken einholt. Und nicht ungeschoren lässt.
Louis de Bernières ist es gelungen, die Atmosphäre einer versunkenen Welt einzufangen. Und jene, die ihr ihren unverwechselbaren Charme verliehen, zum Leben zu erwecken. Die schöne Philothei, die bereits bei ihrer Geburt Aufsehen erregte, ihre Freundin Drosoula, hässlich aber nett, Iskander den Töpfer, der Vogelzwitschern in Ton zu bannen versteht, der unglückliche Rustem Bey, dem das Leben einen Schicksalsschlag nach dem anderen versagt, und seine Geliebte Leyla Hanim, die vermeintliche Tscherkessin, verurteilt zur Lüge über ihre Herkunft. Und natürlich nicht zu vergessen Mehmetcik, der seinem besten Freund Karatavuk das Lesen und Schreiben beibringt, das dieser in der Koranschule nicht lernt, wo alle immer so nett unter einem Baum sitzen und Geschichten über Geschichten erzählt werden.
Und Geschichten über Geschichten fügen sich in epischer Breite zusammen zum „Traum aus Stein und Federn“, dessen Originaltitel „Birds Without Wings“ allerdings ungleich treffender – und weniger kitschig! – geraten ist. Mit Kitsch hat de Bernières’ Roman nämlich absolut nichts zu tun. Die augenzwinkernde Erzählweise ist vom selben Schlag wie jene Dimitrij Dinevs in den „Engelszungen“, und der Autor kennt keine Berührungsängste. Er versteht das Schöne und das Schreckliche gleichermaßen packend zu schildern und verrät in seiner Haltung eine schlichte Weisheit, die seinesgleichen sucht. Leider. Wären diese klaren Denker dichter gesät, ginge es friedlicher zu auf der Welt.
Bekannt wurde Louis de Bernières vor allem mit seinem Roman „Corellis Mandoline“ und dessen Verfilmung mit Nicholas Cage und Penelope Cruz. „Birds Without Wings“ bildet unter anderem eine Art Vorgeschichte dazu, manche Figuren werden dem Leser bekannt vorkommen. Aber de Bernières ist mit seinem jüngsten Roman auch gleichsam über sich und seinen früheren Bücher hinausgewachsen. „Birds Without Wings“ ist viel mehr als ein gut erzählter historischer Roman, der ein wenig bekanntes Kapitel eurasischer Geschichte des 20. Jahrhunderts aufrollt. Neben seiner literarischen Leistung enthält der Text eine philosophische Theorie über das Entstehen von Kriegen, über Formen friedlichen Zusammenlebens und hasserfüllter gegenseitiger Verfolgung, die er unaufdringlich, aber manchmal auch explizit und pointiert mitteilt.
Louis de Bernières, selbst Kosmopolit, der unter anderem im Nahen Osten aufwuchs, erzählt vom Untergang eines kosmopolitischen Mikrouniversums. Dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hält der Organismus der Stadt nicht stand. Ebensowenig wie den Deportationen danach. Die Greueltaten auf beiden Seiten sind unaussprechlich und ungezählt. Ungesühnt werden sie nicht bleiben. Und so ist der Auftakt gegeben zum blutigen Kreislauf von Schuld und Sühne, Rache und Trauer:
„Die Historie hat keinen Anfang, denn alles, was geschieht, wird Anlass oder Vorwand für das, was danach geschieht, und diese Kette aus Anlass und Vorwand reicht zurück bis in graue Vorzeit, als der erste Kain des einen Stammes den ersten Abel des anderen erschlug. Jeder Mord ist Brudermord, und deshalb ist die Kette der Schuld unendlich, und sie begleitet jedes Volk und jede Nation auf ihren gewundenen Pfaden, sodass die Opfer des einen Verbrechens die Täter des nächsten werden und jede frisch befreite Nation sogleich zu den Mitteln ihrer vormaligen Unterdrücker greift. Der dreifache Bazillus Utopie, Nationalismus und Religion lässt ein teuflisches Gebräu entstehen, eine Säure so scharf, dass sie das moralische Metall jedes Volkes zerfrisst, und dieses Volk wird schamlos, ja stolz Taten begehen, die es bei anderen als Schandtaten anprangern würde.“


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